Dorfleben
Der Ort Heiligenrode entstand vor etwa 900 Jahren als Hufendorf (Reihendorf) mit der Kirche als baulichem Mittelpunkt. Wie bereits auf Tafel 1 erwähnt, ließ das Kloster Kaufungen in den Randgebieten des Fuldabeckens und seiner Nebentäler Rodungen im südwestlichen Kaufunger Wald durchführen und Dörfer anlegen. Die Ortsgrenzen erstrecken sich im Westen bis zum Wichtelbrunnen kurz vor Sandershausen und "Auf der bunten Böhnen" (Bunte Berna) in Bettenhausen. Die südliche Grenze markieren die Losse und der Kalkberg. Die Ostgrenze verläuft entlang des Diebachgrabens bis hin zum Gut Windhausen und weiter zum Mühlenberg. Im Norden verläuft die Grenze vom Viehberg (Rüsteberg) und Sommerberg bis zum Mühlenberg nahe Uschlag und Dalheim.
Heiligenrode im Jahr 1835. Zu sehen sind die Kasseler und Witzenhäuser Straße von links nach rechts, die Heinrich-Heine-Straße ins Niestetal sowie die Wicherstraße, die Kleine Gasse, die Dorfstraße, Hinter der Kirche, Opferhof und die Breite Straße im Ortskern. @"Gegend von Cassel" Kurfürstl. Generalstab
Im Zuge der Reformation verlor das Kloster Kaufungen schließlich weitestgehend seine Einkünfte an den Landgrafen zu Hessen Kassel. Nach Ausweisung des Pflugregisters von 1458 gehörte Heiligenrode schon damals zum Amt Neustadt (Kassel Unterneustadt). In der Zeit des 30jährigen Krieges gab es eine Bestandsaufnahme zur Steuererhebung in dieser Gegend. Daraus erfahren wir, dass 1639 in Heiligenrode 66 Familien lebten, die 41 Pferde, 39 Kühe, 15 Schweine, 11 Bauernhöfe (Hufen) und 50 Äcker besaßen. 1750 zählte das Bauerndorf bereits 34 Bauernhöfe. Die Bauern lebten mit ihren Familien von den Erträgen ihrer Felder.
Ebenso wichtig waren u.a. die Stellmacher, Küfer und die 3 Schmiedemeister. Tag ein, Tag aus mussten Hufe beschlagen werden, Räder, Fässer und Werkzeug wurde hergestellt und neben zahlreichen Reparaturen an den eisernen Ackergeräten brauchte es auch noch Nägel, Haken oder auch Ketten. Eine alte Schmiede war in der Dorfstraße 2, das kleine Backsteingebäude ist heute noch erhalten. Zudem gab es zwei Stellmacher (auch Wagner genannt), die Kasten- und Leiterwagen herstellten. Auch ein Schreiner war in Heiligenrode ansässig, ebenso wie ein Korbmacher. Sein Brot verdiente der Schreiner neben dem gelegentlichen Hausbau auch mit Reparaturen an Türen und Fenstern, er zog zerbrochene Fensterscheiben ein und stellte Tische, Stühle und Schränke her. Zuletzt sind noch die Leineweber zu nennen, die das gesponnene Garn der Mägde zu Leinentüchern weiterverarbeiteten.
Die untere Dorfstraße, eine Ölmalerei von Justus Mergard um 1935. Zu sehen sind linksseitig das Fachwerkhaus der Gaststätte "Bi Otten". @Gemeinde Niestetal
Im Laufe der Jahrhunderte wurde Heiligenröder stetig größer. Im Jahr 1817 gab es bereits 621 Einwohnerinnen und Einwohner. Aber es gab auch Rückschläge, wie die Schulchroniken vermelden. Denn 1834 starben 25 Schulkinder an einer Masernepidemie, 1847 starben 50 Mädchen und Jungen an einer Seuche und im Kriegsjahr 1864 müssen größere Sterbefälle durch Cholera hervorgerufen worden sein. Doch im Laufe der Zeit überstiegen die Geburten die Sterbefälle und viel mehr Kinder erreichten das Erwachsenenalter. Weiterentwicklungen im Bereich der Medizin und Hygiene verbesserten den Gesundheitszustand enorm. Nach 1900 stiegen die Zahlen nochmals, dass belegen die nun besser überlieferten Erhebungen.
Ihren Beitrag dazu leistete auch die "Gemeindeschwester Anna". Anna Hochhut war eine Diakoniekrankenschwester mit einer guten Ausbildung (diese Ausbildung gibt es seit Mitte des 19. Jahrhunderts). Hintergrund war einerseits die schlechte Gesundheitsversorgung und andererseits gab diese Ausbildung unverheirateten Frauen die Möglichkeit, sich eine eigene finanzielle Lebensgrundlage zu schaffen. Arbeit gab es für diese Frauen als Gemeindeschwester oder in einem Krankenhaus. Schwester Anna entschied sich für den Dienst in einer Gemeinde. Sie trug die traditionelle Diakonissentracht, bestehend aus einem knöchellangen schwarzen Kleid und einer weißen Kopfhaube. So erkannte man sie überall wieder, wenn sie stets zu Fuß zur Krankenbetreuung unterwegs war. Ihre Wohnung lag in der Jahnstraße 12, im Hause des Architekten Heinrich Hartmann. Schwester Anna war eine zierliche junge Frau mit großer Hingabe für ihre Arbeit und Verantwortung. Sie war 24 Stunden abrufbereit, um zu helfen. Ihre Kenntnisse und ihr bedingungsloser Einsatz kamen denen eines Arztes gleich. Kraft schöpfte Schwester Anna aus ihrem christlichen Glauben. Sie genoss großes Ansehen und Achtung bei den Heiligenrödern – ersetzte sie doch fast einen Arzt. Eine Krankenkassenpflicht gab es 1910 noch nicht, oft war auch kein Geld da für einen Arztbesuch im entfernten Kassel. Medikamente konnte sie nicht verordnen, aber nach ihren Möglichkeiten und mit ihrer Kenntnis hat Schwester Anna vielen Kranken, Verletzten und Verwundeten das Leben erhalten oder erträglicher machen können. Gemeindeschwester Anna war von 1914 bis 1955 tätig. Im Ruhestand ging Schwester Anna in das betreute Diakonissen-Schwesternwohnheim in Kassel.
(V.r.n.l.) Gemeindeschwester Anna mit dem kleinen Guntram Speck, sie war von 1914 bis 1955 tätig. Daneben Hebamme Marie Berg, sie war von 1939 bis 1970 für Heiligenrode im Einsatz.
@Gemeinde Niestetal
Einige Jahre gab es keine Gemeindeschwester in Heiligenrode, dann besetzte Schwester Anita Stelzig die vakante Stelle. Heute gibt es mehrere niedergelassene Ärzte im Ort sowie eine größere Diakoniestation. Außer der Gemeindeschwester Anna gab es in den Jahren 1939-1970 eine weitere besondere Persönlichkeit in Heiligenrode. Hebamme Marie Wilhelmine Berg bracht in der Zeit ihrer Tätigkeit über 2000 Kinder zur Welt.
Kriege und Gefechte
Nach den Sternerkriegen belagerte Otto der Quade (der Böse) Herzog von Braunschweig-Lüneburg-Göttingen 1385, zusammen mit dem Erzbistum Mainz sowie zahlreichen Fürsten und Bischöfen, das nahe Kassel. Doch die Stadtmauern hielten stand. Da sie mit ihrem Vorhaben die Stadt einzunehmen scheiterten, zog das Belagerungsheer plündernd und Brandschatzend durch den Landkreis und zerstörte viele Häuser, auch in Heiligenrode und Umbach. Doch die größte Vernichtung unseres Dorfes ging wohl die Belagerung Kassel unter General Johann T'Serclaes von Tilly zurück, der im Sommer 1626 jegliche Höfe und Häuser in Heiligenrode in Flammen aufgehen ließ, nachdem er zuvor in Hann. Münden die Straßen mit Leichen pflasterte und alles in Brand steckte. Alle heute existenten Häuser stammen aus der Zeit nach diesem Angriff, der innerhalb des 30-jährigen Krieges stattfand.
Am 23.
Juli 1758 tönten Kanonenschläge durch den Wald am Viehberg, lautes
Stimmengewirr war zu hören und Gewehre wurden abgefeuert. Ganz in der Nähe, am
Sandershäuser Berg, tobte eine große Schlacht. 4.000 Hessen wurden von 12.000
Franzosen gegen Hannoversch Münden zurückgedrängt. Der 28-jährige Leutnant Friedrich Carl Albrecht von Ysenburg-Büdingen und ungefähr 2.000 Soldaten (auf französischer Seite) sowie 1.000 weitere Soldaten (auf hessischer Seite) starben auf dem Schlachtfeld. Doch damit nicht genug, einige
tausend Hessen, die so genannten Hessians,
nahmen auf Seiten der Briten an zahlreichen Schlachten im Amerikanischen
Unabhängigkeitskrieg teil. Am 26. Oktober 1783 wurden die überlebenden
Hessians auf den Wiesen Heiligenrodes verabschiedet und in ihre Heimat geschickt.
Im ersten wie auch im zweiten Weltkrieg kämpften Heiligenröder in zahlreichen Schlachten weitab ihrer Heimat. Mit dem Krieg kamen auch Not und Schrecken in unser Dorf. Rings um das Dorf wurden Geschütze und Scheinwerfer aufgestellt, die das Industrieviertel von Bettenhausen gegen feindliche Flieger schützen sollten. So kam es auch in unserem Ort im zweiten Weltkrieg zu zahlreichen Todesfällen. Im Sommer 1940 gab es einen ersten Luftangriff, bei dem einige Häuser beschädigt wurden. Am 30.04.1942 flogen die Alliierten vormittags einen Tagesangriff auf Kassel, dabei wurde unser Ort sehr schwer getroffen. Zehn Häuser wurden vollständig zerstört, achtzig weitere Häuser schwer und über hundert Häuser leicht. Beim Großangriff auf Kassel am Abend des 3. Oktober 1943 brach eine gewaltige Feuersbrunst über Sandershausen herein, aber auch über Heiligenrode. Besonders hart wurde das Unterdorf getroffen.
Beseitigung von Kriegsschäden und eigestürtzten Häuserresten in den Straßen Opferhof, Ecke Hinter der Kirche durch den Arbeitsdienst und die Anwohnerinnen und Anwohner. (02.08.1943) @Doris Werner
Wenig später, beim Großangriff auf Kassel am 22. Oktober 1943, fielen wieder Bomben auf
Heiligenrode. Oftmals waren es ungenaue Positionsmarkierungen, die die Angriffe auch auf Kassel-nahe Dörfer ausweiteten, doch ebenso mussten die Flieger der Alliierten alle Bomben bei einem Angriffsflug abwerfen, um nach dem Bombardement auf Kassel genügend Gewicht verloren zu haben, damit sie über den Dörnberg und Wilhelmshöhe abdrehen konnten. Der letzte Angriff im Oktober 1944 galt der Flakbatterie am
Südende des Dorfes, wobei wieder einige Familien ihr Heim verloren. Während der
Bombardierungen wurden zahlreiche Bunker und Häuser von den Alliierten
getroffen und durch die Druckwellen wurden regelmäßig die Dächer abgedeckt sowie Fenster und Wände eingedrückt. Doch auch Piloten wurden
abgeschossen. Ein US-Kampfflieger stürzte dabei auf den Feldern zwischen
Heiligenrode und Windhausen ab. Auf dem Friedhof in Heiligenrode erinnert eine
Gedenktafel an die Heiligenröder Opfer des 2. Weltkrieges und eine Säule an die gefallenen Soldaten aus dem ersten Weltkrieg.
Danach folgte eine Zeit des Friedens in Mitteleuropa. Am
1. August 1972 wurden Heiligenrode und Sandershausen zur Gemeinde Niestetal
zusammengeschlossen.
Der Bauernhof der Familie Brückmann in der Dorfstraße 23 (linkes Haus) war bis 1945 noch um einiges größer. Die Fachwerkstallungen zogen sich U-förmig von der Wicherstraße bis zur Dorfstraße 27. In der Abwesenheit der geflüchteten Besitzer, lagerte die Wehrmacht im zweiten Weltkrieg in den Scheunen allerhand Munition. Als die Amerikaner im April 1945 Heiligenrode befreiten, fing die Scheune Feuer und explodierte. Wahrscheinlich wurde die Scheune von sich absetztenden deutschen Soldaten angesteckt, damit die Munition nicht den Amerikanern in die Hände fiel. Der Hof konnte kaum gerettet werden und die Explosion beschädigte umliegende Häuser und verletzte mindestens eine Person schwer, die im gegenüberliegenden Haus wohnte und von der Druckwelle zurückgewurfen wurde.
Damals und Heute
Vom landwirtschaftlich geprägten Ortskern ist in heutiger Zeit nicht viel geblieben. Lediglich um den Kirchhof und entlang der Dorfstraße haben sich einige Hofanlagen erhalten, die das mittelalterliche Heiligenrode erahnen lassen. Am Dorfplatz befindet sich der Ortskern des alten Heiligenrode. Hier finden sich die ältesten Straßennamen wie Brackenweg (Opferhof), Breite Straße, Kirchweg (Hinter der Kirche), Wicherstraße und Große Gasse (Dorfstraße). Die zahlreichen Höfe der ansässigen Bauern waren längs dieser Straßen aufgereiht. Im Unterschied zu manch prunkvollen Fachwerkhäusern in größeren Städten sind die Fachwerkhäuser in unserem Dorf meistens sehr bescheiden in ihren Formen und auch in ihren Ausmaßen. Schnitzwerk an den Trägern findet man selten. Lediglich im Haus Hinter der Kirche 1 finden sich alte Gefach-Malereien mit floralen Mustern und eine Inschrift der Bauherren, ebenso wie in der Witzenhäuser Straße 29 oder auch der Dorfstraße 28. Die meisten Gebäude im Ortskern stehen unter Denkmalschutz. Die Gestaltung des heutigen Dorfplatzes spiegelt mit dem Kunstwerk "Kinder bewegen die Welt" die alte Schule wieder, sowie die „Grüne Schule“, die auf dem gegenüberliegenden Grundstück linksseitig stand. Der kleine Brunnen symbolisiert den ersten öffentlichen Wasserzugang im Ort, der mit einer hölzernen Leitung vom Möncheberg aus in den Dorfkern geführt wurde.
Für die bäuerlichen Anwesen war eine Fläche abgesteckt, die man Hofreite nannte. Dem Wohnhaus waren mehrere Wirtschaftsgebäude zugeordnet, wie Scheune, Geräte- und Wagenschuppen, Ställe und Backhaus. Bei manchen Häusern waren auch Brunnen vorhanden, aus denen das Wasser an langen Stangen heraufgeholt wurde. Auch Hausgärten gehörten zur Hofreite.
Die besagte Hofreite wird beispielhaft am Haus 48 in der Dorfstraße ersichtlich. Das Wohnwirtschaftsgebäude einer drei-seitigen Hofanlage stammt aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Die zweigeschossige Rähmkonstruktion zeigt ein einfach verriegeltes Eichenfachwerkgefüge mit Mannfiguren (die langen Schrägpfosten) an den Eckständern, die mit Schiffskehlen und Diamantmotiven verziert sind. Der Eingangsbereich ist an originaler Position erhalten. An den Wohnbereich wurde wenig später ein Wirtschaftstrakt mit einem hofseitigen Einfahrtstor angebaut.
Das Haus in der Dorfstraße 15 (Kleine Gasse / Ecke Dorfstraße) ist ein kleinformatiges Fachwerkwohnhaus und stammt aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auf der Traufseite (Vorderseite) zur Dorfstraße zeigt das Obergeschoss eine halbe Mannfigur und ein traufseitigen, profilierten Geschossüberstand (Brüstenstreben genannt). Der zweigeschossige Rähmbau verweist auf ein einfach verriegeltes Eichenfachwerkgefüge mit gebogenen Dreiviertelstreben an der Giebelseite zur Kleinen Gasse.
Das Fachwerkhaus in der Breiten Straße 2 ist ein Ernhaus mit Wirtschaftsanbau. Es steht im Kreuzungsbereich von Breiter Straße und Dorfstraße. Der zweigeschossige Rähmbau mit Zwerchhaus wurde Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet. Der Eingangsbereich unterhalb des Zwerchhauses ist an originaler Position erhalten. Es gibt ein Eichenfachwerkgefüge mit nach innen geneigten, einfach verriegelten Dreiviertelstreben an Bund- und Eckständern. Der ganze Hof repräsentiert eine prägende Bauart eines Hofes im Kreuzungsbereich aus dem 19. Jahrhundert (Ähnlichkeit zum Hof in der Witzenhäuser Str. 22, rechtes Bild).
N' Anekdötchen
Familiennamen
kommen und gehen. Manche überdauern die Zeit durch Nachwuchs, andere durch
Flurnamen. 1582 besaß Hans Pfiffer (vlt. Pfeifer) einen schönen Garten an der heutigen
Heinrich-Heine-Straße (am Hang des Treppenaufgangs). Die Bezeichnung Auf der Pfiffershecke ist dort heute
noch als Straßen- und Flurname in Gebrauch und das noch nach über 400 Jahren. Da der Begriff "Hecke" früher auch eine Bezeichnung für einen Wald war, kann die Pfiffershecke auch ein kleines Wäldchen gewesen sein.
Anders erging es dem Bürgermeister Johannes Otto, der sein Amt an den Nagel
hing und in der Napoleonischen Zeit eine Gastwirtschaft in der Dorfstraße
betrieb. „bi Otten“ (bei Otto) wurde ein geflügeltes Wort, was allen
darauffolgenden Gaststätten an gleicher Stelle anhaftete. Nachdem die Familie
Goldmann die Wirtschaft in der Dorfstraße 22 schloss, geriet auch der Name „bi
Otten“ langsam in Vergessenheit.